Yin&Yang im Wettkampfsport

Olympisches Gewichtheben - Deutsche Meisterschaften 2023. 135 Heberinnen und Heber kamen vom 27. bis 28. Oktober in Plauen (Sachsen) zusammen, um sich mit den Besten der Besten ihrer Gewichtsklasse zu messen. Ich habe das Event an beiden Tagen medial begleitet und nehme euch in diesem Artikel mit in eine Welt geprägt von Chaos und Ordnung.

Simon Brandhuber bei den Deutschen Meisterschaften

Im Text: “[…] jemand, der für mich jedes Mal erneut heraussticht, ist Simon Brandhuber. Ein Blick in sein Gesicht verrät mir alles: Er ist heute hier um zu jagen. Wie eine Raubkatze scharrt er aufgeregt mit den Tatzen, bevor er mit einem lauten Schrei die Bühne betritt, um sich seine Beute zu krallen. Jetzt oder nie.”

Mit das Beste an meiner Arbeit ist es, Zugang zu Räumen und Bereichen zu bekommen, die man als außenstehende Person sonst nicht betreten kann. Ein solcher Raum ist zum Beispiel der Backstage Bereich bei Wettkämpfen.

Es ist der Platz den sich die Athletinnen und Athleten teilen, bevor sie schließlich allein die Wettkampfbühne betreten. Hier kreisen die Gedanken um die bevorstehende Leistung, Unsicherheiten kosten dabei Podiumsplätze. Der Aufwärmbereich ist für die Coaches das Äquivalent zur Wettkampfbühne der Sportlerinnen und Sportler. Hier zeigen sie, wie gut sie ihre Athleten monatelang vorbereitet haben und ob sie auf die Tagesverfassung ihrer Schützlinge eingehen können, um sie so gezielt durch den Wettkampf zu leiten.

Es wird Haltung geübt, der Geist gestärkt, die Aufregung gezügelt und dabei sich selbst und andere im Blick behalten. Das gilt für alle Anwesenden hinter der Wettkampfbühne. Hier wird gekämpft, mit sich selbst und gegen andere. Im Wettkampf sind dabei alle gleich, egal ob Frau oder Mann. Die unterschiedlichen Gewichtsklassen der Frauen und Männer wechseln sich an Meisterschaften ab. Das Wettkampfformat ist für alle gleich, jedoch könnte sich die Präsenz der Gruppen hinter der Bühne nicht unterschiedlicher anfühlen.

Diese wechselnde Stimmung lässt sich anhand einer bestimmten Philosophie erklären. Es ist die Einteilung der gesamten weltlichen Existenz in Yin und Yang. In dem taoistischen Symbol steht Yin (schwarz), für das Feminine, das Chaos, während Yang (weiß) für das Maskuline, die Ordnung, steht. Dabei geht es nicht um die Differenzierung von Geschlechtern, sondern um entgegengesetzte Kräfte, die sich aufgrund ihrer Polarität ergänzen. Jordan Peterson beschreibt in seinem Buch „12 Rules For Life – Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt“ diese Kräfte wie folgt: „Ordnung, das Bekannte, ist symbolisch verbunden mit dem Männlichen, […]. Ordnung ist Gottvater, der ewige Richter, der Chefbuchhalter, der große Zahlenmeister, der Belohnungen vergibt und Strafen verhängt.“ Im Gegensatz dazu das „Chaos, das Unbekannte, ist symbolisch verbunden mit dem Weiblichen. Das liegt daran, dass all das, was wir kennen, aus dem Unbekannten geboren wurde. Im positiven Sinn ist Chaos die reine Möglichkeitsform, der Entstehungsort von Gedanken […].“

Sonja Lochno und Coach Saadettin Karaca (A-Team-Lifting e.V.)

Das Konzept von Yin und Yang macht sich im Aufwärmbereich der Sportlerinnen und Sportler folgendermaßen bemerkbar:

Während sich die Männer für ihren Wettkampf aufwärmen, hängt das Testosteron so dick in der Luft, dass man das Gefühl hat, man müsste den Atem anhalten. Ordnung und Struktur prägen hier die Atmosphäre. Nichts wird dem Zufall überlassen. Die Stille wird jeden Moment mit dem klingenden Aufprall der Hanteln auf den Plattformen unterbrochen. Man hört die Stimmen der Coaches, die ab und zu kurze und präzise Anweisungen an ihre Athleten weitergeben. Man sieht verschränkte Arme vor der Brust und Zornesfalten auf der Stirn. Konzentrierte Gesichter, die kaum nach rechts und links schauen. Man riecht förmlich den Fokus. Den Tunnel. Den Wettstreit.

Die in der Luft hängende Testosteron-Wolke löst sich während dem Verlauf des Wettkampfes langsam aber sicher auf. Stolze Handschläge der Coaches treffen dann auf starke Schultern und Arme werden anerkennend um die durchtrainierten Körper geschlungen. Erst wenn der Job erledigt ist, wird durchgeatmet.

Es ist ein Gesamteindruck, der hier entsteht und nicht auf jeden Einzelnen zutreffend. Jeder Beteiligte hinter der Wettkampfbühne trägt zu diesem Eindruck eine persönliche Note hinzu. Ich durfte nun schon einige Wettkämpfe im Gewichtheben begleiten, und jemand, der für mich jedes Mal erneut heraussticht, ist Simon Brandhuber. Ein Blick in sein Gesicht verrät mir alles: Er ist heute hier um zu jagen. Wie eine Raubkatze scharrt er aufgeregt mit den Tatzen, bevor er mit einem lauten Schrei die Bühne betritt, um sich seine Beute zu krallen. Jetzt oder nie.

Amelie Hörner und Chantal Schreiber im Aufwärmbereich bei den Deutschen Meisterschaften

Im Text: “Ein Moment, der mir seit der DM im Kopf geblieben ist, war die liebevolle Umarmung zwischen Amelie Hörner und Chantal Schreiber während ihrem Warm-Up. Gemeinsam saßen sie auf einer Bank, Chantal mit dem Kopf angelehnt an Amelies Schultern. Dabei hatte Amelie, fast schon beschützend, ihre Arme um Chantal gelegt. Es war, als hätte sie Chantal für ihren anstehenden Wettkampf Kraft gegeben.”

Sobald die Gruppen wechseln, ändert sich dieses dominante, energiegeladene Gefühl. Der Fokus, Tunnel und Wettstreit sind bei den Frauen nicht weniger vorhanden als bei den Männern, jedoch fühlt sich die Konkurrenzsituation hinter den Kulissen unstrukturierter, chaotischer an. Aus dem Laserfokus des Einzelnen wird ein aufgeregtes Miteinander. Es wäre wohl paradox, die Atmosphäre als freundschaftlich zu bezeichnen, denn immerhin geht es auch hier ums gewinnen. Aber der Umgang untereinander bricht sich mit dem Klischee des Zickenkriegs unter Frauen. Die aufgeregten Stimmen der Athletinnen sind nicht zu überhören und auch die lächelnden Gesichter sprechen für sich. Man sieht liebevolle Umarmungen. Die Vorfreude in den Augen wird untermalt von der Anspannung vor dem ersten Versuch auf der Bühne und der Zielsicherheit, in diesem Moment alles zu geben.

Es sind die unkontrollierbaren Emotionen, die die Atmosphäre hier dominieren. Es sind die Tränen nach einem missglückten Versuch oder die enttäuschten Worte gegenüber dem Coach, wenn Erwartungen oder Normen nicht erfüllt wurden. Es ist der losgelöste Schrei, der Freudensprung und das pure Glücksgefühl nach einem hart erarbeiteten Erfolg. Ein Moment, der mir seit der DM im Kopf geblieben ist, war die liebevolle Umarmung zwischen Amelie Hörner und Chantal Schreiber während ihrem Warm-Up. Gemeinsam saßen sie auf einer Bank, Chantal mit dem Kopf angelehnt an Amelies Schultern. Dabei hatte Amelie, fast schon beschützend, ihre Arme um Chantal gelegt. Es war, als hätte sie Chantal für ihren anstehenden Wettkampf Kraft gegeben.

Die beschriebene Vielfalt an Eindrücken und Gefühlen machen meine Arbeit hinter der Bühne zu etwas so Besonderem für mich. Keinen Moment dieser losgelassenen Emotionen, keinen Moment der strategischen Vorgehensweise der Coaches möchte ich missen wollen. Es ist das Wechselspiel aus Yin und Yang, aus Chaos und Ordnung, die einen solchen Wettkampfablauf prägen. Hier werden für mich Sportlerinnen und Sportler zu Menschen, die in allem was sie tun, einen kleinen Teil ihres Charakters offenbaren und somit einen Sport zu dem machen, was er ist. 

Mehr visuelle Eindrücke zum Artikel gibt es im neuen Post auf Instagram.

Lektorat Caroline Gramsch.

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